Indigene Gesellschaften werden auf der ganzen Welt innerhalb ihrer spezifischen regionalen und politischen Kontexte marginalisiert. Ihre Kulturen nehmen auf vielfältige Weise Bezug zur leidvollen Geschichte des Kolonialismus und zu dessen fortdauernden Auswirkungen. Die Aushandlung indigener kultureller Identität ist davon geprägt, sich einerseits gegenüber der hegemonialen Kultur und Lebensart zu behaupten und andererseits diese auch selbstbestimmt anzunehmen – also autonom die eigenen Lebensumstände zu gestalten.
In der medialen Darstellung indigener Menschen werden meist Stereotype und Klischees reproduziert; in Film und Fernsehen haben Indigene selten eine eigene Stimme.
Die Tage des indigenen Films in Rostock wollen Interesse für die Kultur und soziale Situation indigener Gesellschaften wecken und bringen indigene Perspektiven auf die Leinwand. Die Beschäftigung mit indigenen Kulturen soll zu mehr Verständnis beitragen, was ein konstruktives Miteinander auf Augenhöhe überhaupt erst ermöglichen kann.
Letztes Jahr konnten die Tage des indigenen Films leider nicht wie gewohnt im Lichtspieltheater Wundervoll li.wu stattfinden.
Stattdessen wurde das Festival online durchgeführt. Die meisten der Filme, die wir zeigen wollten, konnten so von zu Hause aus geschaut werden und so konnten auch erstmals Interessierte, die nicht den Weg nach Rostock nehmen konnten, an dem Festival teilnehmen. Bei den Online-Vorträgen zu den Themen Die Darstellung der Indigenen in Museen und Medien, Landrechte und indigenes Wissen in Amerika und Indigener Naturschutz kamen Besucher*innen, Vortragende und die Festival-Orga ins Gespräch. Dies hat wieder deutlich gemacht, dass der Austausch miteinander wesentlich für ein Filmfestival ist. Wir hoffen, dass wir das diesjährige Film- und Workshop-Programm wieder im Kino veranstalten können und uns das Festival wieder physisch zusammenbringt. Selbstverständlich werden wir die Filmtage entsprechend der dann erforderlichen Hygienemaßgaben umsetzen und falls die Durchführung im Kino nicht möglich ist, das Festival wieder online veranstalten.
Der Schwerpunkt in diesem Jahr lautet Indigenous Lives Matter
Indigene sind sehr viel häufiger struktureller Gewalt ausgesetzt als Angehörige der Mehrheitsgesellschaft, nicht selten mit tödlichem Ausgang. Systematische staatliche Repression gegen Indigene ist eher die Regel als die Ausnahme. Sie offenbart sich durch Polizeiwillkür, den erschwerten Zugang zu Rechtshilfe, Ungleichbehandlung vor Gericht oder gar durch gezielte Militärgewalt gegen ethnische Minderheiten.
Diese Bedrohung des eigenen Lebens, nicht selten durch staatliche Akteure, und die Sorge um die Sicherheit ihrer Gemeinschaftsmitglieder eint Indigene weltweit. Diese Erfahrung teilen sie mit Schwarzen und People of Colour in weißen Mehrheitsgesellschaften .
Als der Afroamerikaner George Floyd im Mai 2020 in Minneapolis von weißen Polizisten im Rahmen eines Polizeieinsatzes ermordet wurde, folgten in hunderten amerikanischen Städten Demonstrationen gegen Rassismus und Polizeigewalt unter dem Namen Black Lives Matter. Die Bewegung formierte sich bereits 2013 unter diesem Namen und baut auf eine lange Geschichte der Skandalisierung von rassistischen Übergriffen durch staatliche Institutionen auf. Doch diesmal macht der Videoclip, der die Ermordung festhält, die rassistische Polizeigewalt in den sozialen Medien sichtbar. Er wird millionenfach geteilt und die Bewegung erreicht globale Aufmerksamkeit.
Ein weltweites Echo an Demonstrationen in Solidarität mit Black Lives Matter folgte. Auch in Rostock kamen im Juni mehr als 600 Teilnehmer*innen unter dem Motto Nein zu Rassismus! Gemeinsam sind wir stark zu einer Kundgebung zusammen.
In Minneapolis, Oregon und anderen US-amerikanischen Städten schlossen sich die lokalen Bewegungen von Native Americans mit der Black Lives Matter Bewegung zusammen. Sie teilen nicht nur die Erfahrung von systematischer Polizeigewalt und staatlicher Repression, sondern auch eine gemeinsame Geschichte des Kampfes dagegen. Zudem sind sie mitunter selbst von Anti-Schwarzem Rassismus betroffen.
Im Zuge von Black Lives Matter wird auch deshalb weltweit auf die Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen von Schwarzen und Indigenen aufmerksam gemacht, da auch indigene Aktivist*innen das Momentum nutzen um auf die Kämpfe ihrer lokalen Communities aufmerksam zu machen. Dies schafft und stärkt Allianzen zwischen Schwarzen, People of Colour und Indigenen über den amerikanischen Kontinent hinaus
Auf Demonstrationen in den USA und Kanada, in Australien und Neuseeland wurde zusätzlich zu Black Lives Matter, Indigenous Lives Matter, Natives Lives Matter und Aboriginal Lives Matter skandiert. In diesen vier Ländern sind die selbstorganisierten Proteste Indigener gegen staatliche Gewalt besonders stark. Es sind genau diejenigen Länder, die als einzige UN-Staaten 2007 nicht für die Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker gestimmt haben. Sie positionierten sich gegen das darin enthaltene Mitspracherecht indigener Gemeinschaften. Dennoch wurde es mit 143 Ja-Stimmen verabschiedet. Darin werden nicht nur die Menschenrechte jedes indigenen Individuums betont, sondern auch Selbstbestimmung und Gleichbehandlung als Rechte von indigenen Kollektiven gesetzt.
Der strukturelle Rassismus in Australien wird durch den absurd hohen Anteil von Aborigines in den australischen Gefängnissen deutlich. Etwas mehr als 3 Prozent der australischen Bevölkerung sind Aborigenes, in den Gefängnissen stellten sie bereits 1991 über 14 Prozent der Insassen. Damals wurde bereits in behördlichen Untersuchungen festgehalten, dass dies nur durch Ungleichbehandlung innerhalb des Rechtssystems erklärt werden kann und die Rate an Verhaftungen bei Weißen gesellschaftlich nicht toleriert würde. Der Missstand ist den Behörden also seit 3 Jahrzehnten bekannt. Doch seitdem besteht das Problem nicht nur fort, der Anteil von Indigenen in den australischen Gefängnissen hat sich seitdem sogar noch einmal auf 28 Prozent verdoppelt. Mehr als 430 Indigene sind seitdem in australischen Gefängnissen oder in Polizeigewahrsam gestorben, in keinem einzigen Fall kam es zu einer Verurteilung eines Verantwortlichen aus dem Justizwesen.
Der Aktivist für indigene und queere Rechte Todd Fernando spricht von systematischer Vertuschung durch den australischen Staat. Er organisiert Aboriginal Lives Matter-Demonstrationen und fordert wie viele Black Lives Matter Aktivist*innen in den USA: Defund the Police. Da die Polizei bei der Aufgabe versagt habe für Sicherheit vor Gewalt und Gerechtigkeit auf den Straßen einzustehen, für Indigene die Polizei sogar für das Gegenteil stehe, sollten stattdessen die Gemeinschaften selbst mit den Mitteln ausgestattet werden, um sich um soziale Missstände kümmern zu können.
Die Forderung wird auch in dem Film In my blood it runs der Filmemacherin Maya Newell aufgegriffen. Er portraitiert den 10-jährigen Aborigine Dujuan Hoosan. Dujuan wird in dem auf Weiße ausgerichteten australischen Schulsystem zum Versager deklariert und ist davon bedroht in ein Jugendgefängnis gesperrt zu werden. Fast 100 Prozent der Insassen von Jugendgefängnissen im Kindesalter sind Aborigines. Dujuans Familie plädiert dafür, dass sich Aborigines selbst um die Bildung und Erziehung ihrer Kinder kümmern dürfen, damit sie nicht in den Teufelskreis von Repression und Delinquenz gedrängt werden.
Auf den landesweiten Aboriginal Lives Matter-Demonstrationen im Juni 2020, den größten, die Australien zum Thema indigene Rechte seit Jahrzehnten gesehen hat, steht Racism is the pandemic auf den Bannern. Gegenwärtig müssen Indigene gegen zwei Pandemien ankämpfen. Zusätzlich zu der Gefahr Opfer von Polizeigewalt und nichtstaatlicher Gewaltverbrechen zu werden kommt durch Covid-19 eine Bedrohung dazu, die sie ungleich härter als Angehörige der Mehrheitsgesellschaft trifft. Auch im Umgang mit der Pandemie muss hochgehalten werden, dass Indigene Leben zählen. Insbesondere isoliert lebende Gruppen haben häufig schlechtere immunologische Ausgangsbedingungen im Umgang mit einem neuen Virus. Menschen in Gruppen, die fernab von intensivmedizinischer Infrastruktur leben, sind stärker gefährdet an schweren Corona-Verläufen zu sterben. Wer arm ist, lebt häufig beengter, kann sich schlechter isolieren und nicht ohne weiteres auf Lohn verzichten. Armut wirkt sich auch unabhängig von Covid-19 extrem negativ auf die Lebenserwartung aus.
Unter dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro wird gegenwärtig die Behörde für indigene Gesundheit geschlossen und die Gesundheitsversorgung in den Amazonasgebieten privatisiert – es wird sich allerdings nach marktwirtschaftlichen Kriterien kaum rechnen, in den abgelegenen Gebieten die nötige Infrastruktur aufrechtzuerhalten. Bereits im April 2020 hat der brasilianische Indigenenverband CIMI als Reaktion auf die COVID-Krise gefordert, dass Präventions- und Behandlungsmöglichkeiten in den indigenen Gebieten aufgebaut werden müssen. Indigenous Lives Matter heißt in diesem Kontext auch einen gerechten Zugang zur Gesundheitsversorgung zu schaffen und indigene Lebensweisen bei der Begegnung der Pandemie zu berücksichtigen.
Das Leibniz Institut for Global and Area Studies kommt zu dem Schluss, dass die Weltgesundheitsorganisation die Koordination von medizinischem Personal und Ressourcen in Gebiete mit eingeschränkter medizinischer Versorgung übernehmen müsste. Von der Diskriminierung Indigener bei der Versorgung mit Impfstoff ist auszugehen. In Brasilien ist die Impfbereitschaft unter Indigenen auch deshalb niedrig, weil evangelikale Akteure Fehlinformationen über die Impfkampagne verbreiten.
Indigene Aktivist*innen auf der ganzen Welt machen auf Missstände aufmerksam, was es Menschen des globalen Nordens möglich macht sich zu informieren und sich solidarisch mit ihnen zu zeigen. Wir wollen dieses Jahr mit unserer Filmauswahl auf die strukturelle Gewalt durch staatliche Akteure gegenüber Indigenen, die Organisierung von Betroffenen gegen diese Unterdrückung und die internationale Solidarisierung und Vernetzung von Indigenen aufmerksam machen.
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Moderierte Diskussion im Anschluss an die Vorführungen
Aktuelle Informationen auf
www.indigenerfilm.de
www.facebook.com/indigenerfilm
Die Tage des indigenen Films sind eine Veranstaltung von
elements. Bildung und Kultur in der Einen Welt e.V. Rostock
in Kooperation mit dem
Lichtspieltheater Wundervoll li.wu. Rostock
Rostock